Geschichte der Fanarbeit St.Gallen

2021 war das zehnte Betriebsjahr der Fanarbeit St.Gallen. Ihre eigentliche Geschichte beginnt aber viel früher und mit einem Tiefpunkt: Am 20. Mai 2008 steigt der FC St.Gallen im letzten Spiel im Espenmoos aus der Super League ab. Nach Abpfiff kommt es zur Eskalation zwischen St. Galler Polizei und Fans. Die Bilder gehen durch die Medien und werden zu einem Teil der Klubgeschichte. Stellvertretend für viele Fans im Stadion fragte sich ein damaliger Student der Fachhochschule St.Gallen: «Man konnte doch davon ausgehen, dass es bei einem Abstieg zu Spannungen und Konflikten kommen würde. Wieso wird in einer derart angespannten Situation nicht miteinander geredet? Wieso versucht man nicht im Voraus solche Dynamiken zu verhindern? Wieso macht man keine Fanarbeit?»

Aus diesen Fragen entstand 2009 ein Praxisprojekt einer Gruppe Studierender im Fachbereich Soziale Arbeit zum Aufbau von Fanarbeit in St.Gallen. Es wurde eine Projektgruppe mit Vertretern aus Klub, Politik, Fan-Dachverband, Stadt und Kanton gebildet, die gemeinsame Ziele und Grundhaltungen einer Fanarbeit in St.Gallen definierte. Zwei Jahre später, im Februar 2011, erfolgte die Gründung des Vereins für sozioprofessionelle Fanarbeit FC St.Gallen mit dem Ziel, der Idee zum politischen Durchbruch zu verhelfen und die Finanzierung sicherzustellen. Nach intensiven Verhandlungen sagten sowohl der Fussballclub wie auch die Stadt und der Kanton ihre Unterstützung für ein dreijähriges Pilotprojekt zu.

Im Januar 2012 stellten sich die beiden ersten St.Galler Fanarbeiter den Fans und Medien vor. Alex Hasler und Thomas Weber traten beide ein 50%-Pensum an und bezogen ihr vorübergehendes Büro im «OstSinn» am Bohl. Zusammen mit dem Vorstand um Daniel Kehl und Karin Winter-Dubs machten sie es sich zur Aufgabe, die geleisteten Vorarbeiten in die Tat umzusetzen.

2012 bis 2014: Pionierphase Pilotprojekt

Sportlich beginnt das Projekt mit einem Kantersieg im eigenen Stadion, fantechnisch mit einem Stimmungsboykott des Espenblocks. Aus Protest gegen die zunehmende Repression gegen Fussballfans in St.Gallen, verzichtet die Fankurve auf jeglichen Support, sowohl visuell wie auch akustisch. Eine langsame Eingewöhnung liegt für die Fanarbeit also nicht drin. Zumal noch vor Jahreshälfte der Einzug ins erste Fanlokal und der Wiederaufstieg in die höchste Liga folgen. Mit dem Littering-Projekt in den Extrazügen wird auch das erste konkrete Angebot lanciert.

Kurz vor der erfolgreichen Qualifikation für die Europa League in einem historischen Auswärtsspiel in Moskau stösst Reto Lemmenmeier zur Organisation. Mit Alex Hasler verlässt einer der beiden Pioniere das Team nach gut eineinhalb Jahren. In den nächsten Jahren folgen weitere neue Angebote wie das Graffiti-Projekt, wo Fans im Stadion die Aufgänge im Heimsektor neugestalten, und das U16-Projekt, in dem jugendliche Fans erste Einblicke in die St. Galler Fankultur erhalten können.

Während des Pilotprojekts wird die Entwicklung der Organisation eng vom Institut für Soziale Arbeit IFSA-FHS (heute OST) begleitet. Der daraus entstandene Evaluationsbericht hält im April 2014 fest: «Eindeutig lässt sich die positive Wirkung der Fanarbeit St.Gallen (…) bestätigen. Fans, Vertretungen auf politischer Seite wie auch Vertreter des FC St.Gallen zeigten sich übereinstimmend positiv überzeugt von den Erfolgen der Fanarbeit (…)». Damit ist der Grundstein für eine Weiterführung, über die Pilotphase hinaus, gelegt. Im Herbst 2014 sprechen sich sowohl Stadt und Kanton als auch der FC St.Gallen für eine unbefristete Weiterführung der Fanarbeit aus.

2015 bis 2018: Entwicklung zum steten Angebot

Die breite Legitimation und Abstützung soll genutzt werden, um das Angebot der Fanarbeit weiter auszubauen und sie in eine feste Organisationsform zu überführen. So konnten die Rahmenbedingungen für ein integratives Angebot für Fans mit Stadionverbot mit Stadtpolizei und FC St.Gallen ausgehandelt werden und zur Rückrunde 2015 wurde der erste Teilnehmer in das Projekt Chance aufgenommen. Sportlich gleicht diese Phase einer Konsolidierung im (unteren) Tabellenmittelfeld der höchsten Spielklasse. Im Sommer 2018 erbt der FCSG den Europa League-Qualifikationsplatz des Cupsiegers und darf einen der seltenen internationalen Auftritte im norwegischen Sarpsborg feiern.

Auch die Fanarbeit etabliert sich und schafft in dieser Zeit nachhaltige Strukturen. Das Team wird mit Manuel Dudli auf drei Personen aufgestockt und die Schaffung und Optimierung von internen Prozessen in den Bereichen Controlling, Evaluation und Teamentwicklung gewährleisten eine hohe Arbeitsqualität. Letztlich führt auch eine neue Kompetenzverteilung zwischen Team und ehrenamtlichem Vorstand für mehr Transparenz und Effizienz. Dazu zählt auch ein professioneller visueller Auftritt inklusive ausgebautem Internetauftritt.

Als eigentlicher Meilenstein kann in dieser Phase aber der Umzug in den Bierhof betrachtet werden. Neu stehen der Fanarbeit im Obergeschoss dieses ehrwürdigen Gebäudes zwei Räume zur Verfügung, wovon einer auch von Fans als Sitzungszimmer oder Rückzugsraum genutzt wird. Das Restaurant Bierhof wird in dieser Zeit zum wohl schönsten Fanlokal der Schweiz umgebaut und neu von Fans ehrenamtlich in Selbstverwaltung geführt.

2019 bis 2021: Standfest und zukunftsgerichtet

Wie wichtig tragfähige Strukturen sind, wird in den folgenden Jahren deutlich. Auf die Abgänge von Manuel Dudli und Reto Lemmenmeier folgen die Zuzüge von Marco Bucher und Jan Acklin. Die Strukturen werden zunehmend personenunabhängig gestaltet und professionalisiert. Die Bedeutung dieser Entwicklung sollte spätestens ab 2020 spürbar werden. Selbstredend trifft die Corona-Pandemie auch die Fanarbeit. Der Fussballbetrieb ruht, die Fan-Treffpunkte müssen schliessen, und ob es überhaupt irgendwann weitergehen wird, ist völlig unklar. Die Fanarbeit meldet Kurzarbeit an und versetzt sich in einen Dämmerzustand. Die elementaren Informationskanäle sollen erhalten und die Erreichbarkeit gewährleistet bleiben, alle anderen Angebote werden bis auf Weiteres eingestellt.

Zwischen den Lockdowns wird in der Arbeitsgruppe Dialog am Auftrag des «Runden Tischs» gearbeitet: Das Gremium bestehend aus Stadträtin, Stadtpolizei, FC St.Gallen, Staatsanwaltschaft, SBB, Dachverband und Fanarbeit beauftragte unsere Organisation mit einer Neu- und Weiterentwicklung der Dialogstrukturen in St.Gallen. Diese neuen Strukturen wurden im Frühjahr 2021 von allen Beteiligten verabschiedet und bieten eine zukunftsgerichtete Basis für den Dialog in St.Gallen.

Noch vor der Pandemie erfolgte die Ausarbeitung eines Konzepts für Praxisausbildung für Studierende der Sozialen Arbeit der OST. Im Winter 2019 wird mit der Anerkennung der Fanarbeit St.Gallen als Ausbildungsorganisation der Ostschweizer Fachhochschule ein weiterer Höhepunkt erreicht. Als professionelle Organisation der Sozialen Arbeit können zukünftig Studierende ihr Ausbildungspraktikum bei der Fanarbeit St.Gallen absolvieren.

Der sportliche Höhepunkt fiel dann leider zum grössten Teil den Pandemiebekämpfungs-Massnahmen zum Opfer. Der Cupfinal 2021 zwischen dem FC St.Gallen und Luzern musste in Bern vor nahezu leeren Rängen stattfinden. Trotzdem waren Euphorie und Anspannung in der Stadt schon Wochen vorher spürbar. Zusammen mit Jugendarbeit, Stadtpolizei, Politik und dem FC St.Gallen wurde diskutiert, welchen Beitrag die verschiedenen Akteur:innen an diesem Tag leisten können und welche möglichen Szenarien dabei berücksichtigt werden sollten. Bis hin zum möglichen Cupsieg und spontanen Fanzusammenkünften im öffentlichen Raum, trotz Versammlungsverboten. Der leider sportlich erfolglose Nachmittag bescherte der Stadt St.Gallen am Ende aber einen ruhigen Abend.

Im Frühsommer 2021 erreichte uns die überraschende Nachricht, dass in wenigen Wochen die Stadien wieder ausgelastet werden dürfen und auch fast überall Gästefans zugelassen sind. Entgegen allen Aussagen und Prognosen, die eine langsame Stadionöffnung ankündeten, mussten quasi aus dem Nichts wieder Fanfahrten geplant, Ansprechpersonen definiert, Zertifikatskontrollen organisiert und viele andere Absprachen getätigt werden. Und plötzlich sind die Fankurven wieder voll, Choreos lassen die Stadien erstrahlen, als hätte es nie eine Pause gegeben.

Es folgt ein politisch brisanter Herbst, wo neue radikale repressive Massnahmen erst kurz vor deren Umsetzung noch gestoppt werden können. Einmal mehr verspricht man sich von personalisierten Tickets und Sektorenschliessungen die Lösung aller Probleme im Fussball. Dass sich dieser seit Jahren in einer positiven Entwicklung befindet und die Gewalttaten in und um die Stadien kontinuierlich zurückgehen, wird im sicherheitspolitischen Eifer auch heute immer noch allzu gern vergessen. Ebenso, dass ausschliesslich repressive Lösungsansätze nie zum Ziel führen werden und die Problemlagen eher noch verschärfen. Besonders das zweite Halbjahr 2021 beweist, wie nachhaltig und belastbar die Fanszenen in der Schweiz und ganz Europa sind. Es handelt sich um äusserst stabile soziale Gebilde, die selbst eine fast 16-monatige Zwangspause überstehen und sich in einem unglaublichen Tempo (re-)organisieren können. Mit der Rückkehr der Fans in die Stadien normalisiert sich auch Woche für Woche der Alltag der Fanarbeit St.Gallen.

Ende des letzten Jahres können wir auch die personelle Lücke schliessen. Fabienne Fernandes komplettiert unser Team, und die Fanarbeit kann damit wieder den (vorpandemisch) gewohnten Service bieten. Wir sind wieder an jedem Spiel vor Ort, reisen im Extrazug mit, vermitteln zwischen Klubs und Fans, starten Projekte und Angebote wieder und beraten Fans mit Stadionverboten und anderen Anliegen. Es fühlt sich fast so an, als hätte es nie eine Pause gegeben.

2022 bis 2031: Die nächste Dekade

Die Fanarbeit St.Gallen wird ihre Erfolgsgeschichte weiterschreiben und mit grosser Konsequenz für Dialog und Präventionsarbeit im Fussball einstehen. Wir bleiben aber auch mit der nötigen Portion Demut an dieser Aufgabe. Für eine gelingende und nachhaltige Präventionsarbeit ist das Zusammenspiel aller beteiligten Organisationen und Institutionen nötig, der Einflussbereich der einzelnen ist begrenzt. Deshalb müssen Bewältigungsstrategien auch immer breit abgestützt sein, um eine Wirkung entfalten zu können. Dies bedingt einen steten Diskurs unter allen Involvierten, gemeinsame Ziel- und Strategieklärungen, Offenheit für neue Wege und die Stabilität, Bewährtes erhalten zu können. Und am Ende auch die Widerstandsfähigkeit gegenüber Rückschlägen.

Nur eine neutrale und eigenständige Fanarbeit kann als echte Vermittlerin auftreten, Zugänge zu einer Fanszene erschliessen und gleichzeitig gegenüber Behörden, Klubs und Politik als Beraterin agieren. Vertraulichkeit, Unabhängigkeit, Ressourcenförderung, Allparteilichkeit und Wertfreiheit sind Grundhaltungen aus der Sozialen Arbeit und in der Fanarbeit unabdingbar. Das macht sie zu einem für alle Beteiligten zugängliches Angebot.

Dieser Text ist im Jahresbericht 2021 der Fanarbeit St.Gallen erschienen.


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